Das Unrecht nicht vergessen
«Gesichter der Erinnerung» lässt Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen reden

Bis 1981 konnte in der Schweiz eine Behörde in eine Familie eingreifen und diese auflösen. Sei es, weil die Eltern arm waren, die Mutter Alkoholikerin oder der Vater arbeitslos, sei es, weil das Lebensmodell der Familie nicht den damaligen Vorstellungen entsprach. Oft wurden auch jenische Familien auseinandergerissen. Geschätzt wird, dass mehrere 100000 Personen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren und in Anstalten gesteckt wurden. «Eine ungeheure Zahl!», meinte Verena Rothenbühler vom Staatsarchiv Zürich an einer öffentlichen Veranstaltung, die letzte Woche im Staatsarchiv Baselland in Liestal stattfand.
Die Historikerin moderierte ein Podium mit drei Frauen, die am Projekt «Gesichter der Erinnerung» mitgearbeitet haben. Dieses besteht aus einer Onlineplattform, auf der Betroffene in kurzen Filmaufnahmen über ihre Erfahrungen erzählen. Schilderungen von Gewalt und Missbrauch tauchen immer wieder auf, aber auch Gefühle von Platzlosigkeit, Entwurzelung und Einsamkeit.
Eine untypische Geschichte
Yvonne Barth war im Alter von acht bis zwölf im Kinderheim Röserental in Liestal untergebracht. Ihre Geschichte ist allerdings untypisch: «Das Heim war meine Rettung», gab sie zu verstehen. Der Vater habe kein Geld nach Hause gebracht und die Mutter habe nicht für Drei sorgen können – Yvonne Barth wäre gern länger im Kinderheim geblieben. Für damalige Verhältnisse sei das Heim relativ modern gewesen und dank ihrer Cleverness habe sie sich den Schlägen meist entziehen können. Gewalt habe sie nur an anderen miterlebt, beispielsweise als eine «Schwester Bethli» einem Mädchen auf den Mund geschlagen habe, weil es im Speisesaal geredet habe.
In ihrer Jugend fühlte sich Yvonne Barth nirgends aufgehoben, immer hin und her gerissen. Eine Zeit lang war sie mit ihrer Mutter in Deutschland, wo diese mit einem Freund eine Beiz führte. Zurück in der Schweiz kam sie in Muttenz in die Sonderschule. Dort habe man ihr nichts zugetraut und ihr Vater habe sie kaum wahrgenommen: «Ich war eine lebendige Tote», sagte Yvonne Barth. Ihre Geschichte nimmt aber eine positive Wendung: In einem Haushaltsjahr bei einem Professor stiess sie auf Anatomiebücher – was ihre Faszination für Medizin weckte. Heute hat sie eine Gesundheitspraxis, in der sie medizinische Massage und Podologie anbietet.
MarieLies Birchler, ebenfalls eine Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, arbeitete im Projektteam von «Gesichter der Erinnerung» mit. Während den 85 Stunden Filmaufnahmen mit 32 Betroffenen – auf der Website heruntergebrochen auf 3,5 Stunden – habe sie eine starke Vertrautheit mit den Interviewten gespürt: «Wir wussten genau, von was wir reden.»
Historikerin und Projektmitarbeiterin Loretta Seglias betonte, dass das Thema nicht im historischen und sozialen Kreis bleiben dürfe. Deshalb seien Materialien für Schulen erstellt worden.
Es gibt noch viel zu tun
Letztes Jahr hat sich die Baselbieter Regierung offiziell bei den Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen entschuldigt. 13 «Gedankenbänke» sollen zudem an dieses Kapitel der Geschichte erinnern. Staatsarchivarin Jeannette Rauschert half in den letzten Jahren zahlreichen Betroffenen, die «Mosaiksteine zusammenzufügen». Aus den Akten sprächen jedoch die Normen der damaligen Zeit, nicht die Gefühle der Betroffenen. «Gesichter der Erinnerung» sei deshalb so wichtig, weil es der Deutungshoheit der Akten etwas entgegensetze. Regierungsrätin Kathrin Schweizer wies darauf hin, dass auch für die heutige Zeit Konsequenzen gezogen werden müssten: «Wir müssen weiter genau hinsehen.»
gesichter-der-erinnerung.ch