Kalte Ehrlichkeit, die Hoffnung schenkt

Psychose Die Texte von Christine Kuhn sind extrem dunkel, können aber als Hilfestellung für Betroffene und Angehörige dienen 

Abgeklärt: Christine Kuhn 80 Tage vor ihrem Tod im Hospiz in Arlesheim.Foto: zVg

Christine Kuhn hat einige Monate in der Psychiatrie Baselland in Liestal verbracht, wo sie wegen einer schweren Psychose behandelt wurde. Sie hörte Stimmen, wie von dämonischen Wesen, die ihr das Lebens schwer machten, gleichzeitig verlor sie sich in einer unendlichen, kalten Einsamkeit. Als zweifache Mutter fühlte sie sich überfordert und schliesslich kam noch eine weitere Diagnose hinzu: Krebs. Wer ihre autobiografischen Schriften liest, tastet sich in einer leeren, schroffen, bösartigen Welt vor. Tod und Bedrängnis lauern überall und pausenlos. Dabei wäre der Tod das Einzige, was Erlösung bieten könnte. Doch es gibt kein Entrinnen: Das Jenseits ist für die Schreibende Christine Kuhn absolut unerreichbar, ausserhalb dieser Welt. Wahrlich keine leichte Lektüre, auch wenn sie einen mitreisst.

Aber das ist nur die Hälfte der Geschichte. Die andere ist, dass die 1966 in Niederösterreich geborene Frau, die schon als Kind hypersensibel war, einen Weg fand, «das Leben improvisierend zu meistern». Die psychiatrische Behandlung, vor allem aber ihre Tätigkeit in einer Kreativwerkstatt im Raum Arlesheim sowie in einer Forschungsgruppe mit psychisch erkrankten Menschen, führten zu einer Wende. Sie trug ihre Gedichte und Texte, die in einer eindringlichen, poetischen, aber glasklaren Sprache geschrieben sind, öffentlich vor und erhielt regen Zuspruch. So fand sie gegen Ende ihres Lebens zu ihrer Berufung: Anderen helfen, ehrlich über Tod und alles Schlimme nachzudenken und aufzuhören, sich selber etwas vorzulügen. Ihre letzte Zeit, bevor sie 2019 starb, verbrachte sie in einem Hospiz in Arlesheim. Bis zum Schluss redete sie bereitwillig mit vielen Menschen, die sie aufsuchten und das Gespräch mit ihr suchten. Was bleibt, ist ihr schriftliches Vermächtnis. Neben den künstlerischen Qualitäten kann ihr Werk auch eine Hilfestellung für psychisch kranke Menschen und ihre Angehörigen bieten.

Biografie und Gedichtband in einem

Der Schriftsteller und Journalist Thomas Brunnschweiler, den ObZ-Leser/-innen bestens als Kolumnist bekannt, hat sich an die Aufgabe gewagt, Christine Kuhns Gedichte sowie Auszüge aus zwei Autobiografien in Buchform herauszugeben. «Es ist ein Buch, das Menschen in schwierigen Lebenssituationen helfen kann, aber auch ein Buch für die Angehörigen von Menschen mit einer psychischen Störung oder mit einer unheilbaren Krankheit. Darüber hinaus ist es ein Buch für alle, die noch menschlich fühlen können», beschreibt er sein Unterfangen. Unter dem Titel «Es braucht lange, bis die Menschen ehrlich sind» ist das Buch 2023 im Omnino Verlag in Berlin erschienen.

Der Untertitel lautet: «Durch Psychose und Krebs zur Klarheit». Beide Aspekte, die Krankheit und die Reflexion, treten auf den 186 Seiten abwechslungsweise in Erscheinung, wie Schatten und Licht, die aufeinander folgen. Thomas Brunnschweiler gelingt es, episodenhafte Ich-Erzählungen und dazu passende Gedichte mit erklärenden Zwischentexten zu einem kreisenden, fortlaufenden Ganzen zu verkitten. Wir erfahren, dass sich Christine Kuhn schon als Kind fremd auf dieser Welt fühlte. Wie sie die anderen Menschen für «zurückgeblieben» hielten – dabei wollte sie doch nur ihre Seele erkennen, die Wesenheiten hinter der scheinbaren Realität.

Dämonische Stimmen und eine höhere Kraft

Christine Kuhn/Thomas Brunnschweiler erzählen von der Arbeit als Krankenschwester, die immer schwieriger wurde, weil sie so durchreglementiert war. Und vom Alltagsleben mit Mann und Kindern in Muttenz. Überall hatte Christine Kuhn das Gefühl, den Anforderungen nicht gerecht zu werden – alles wurde zu einer riesigen Last. Dann kamen die Stimmen, die sich anfangs einschmeichelten, dann aber Befehle erteilten. Mehrere Stellen im Buch wirken krass, etwa die Szene im Tram, als sich die Protagonistin am Boden zusammenkrümmt, während sie die «dämonischen» Stimmen mit einer Todesankündigung verhöhnen und ihr innerlich «Herzinfarkt!» entgegenbrüllen. An anderen Stellen spricht eine stille Verzweiflung: «wenn das Leben bricht / und die Lebenskraft zerfällt / wie verbranntes Papier / zu Asche», manchmal eine resignierte Abgeklärtheit: «Schreie der Einsamkeit / hallen über das weite Meer / Sterne fallen vom Himmel / und streuen verwelkte Blätter auf den Weg.»

Doch auch die lichten Momente sind beim Lesen ständige Begleiter. Christine Kuhn fühlte sich durch eine «höhere Kraft» aufgefordert, sich trotz Krebserkrankung für das Leben zu entscheiden und ihre Erfahrungen an andere Menschen weiterzugeben. Sie, und ihre Bezugspersonen, finden Möglichkeiten, «Sand unter die Seele» zu schaufeln, um sie vor dem Versinken zu bewahren. Beim Lesen wächst die Erkenntnis, dass selbst für jemanden, der scheinbar in Hoffnungslosigkeit gefangen ist, noch Menschlichkeit, Fühlen und positives Erleben möglich sind. Worte können zu Lebensrettern werden: «kreuzen sich solche Wege / begegnen sich Gleichgesinnte / die sich gegenseitig / reich beschenken.»

Kuhn, Christine: Es braucht lange, bis die Menschen ehrlich sind. Durch Psychose und Krebs zur Klarheit. Herausgegeben von Thomas Brunnschweiler, Omnino Verlag, Berlin 2023.

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Psychosebetroffene und Angehörige

Daniel Sollberger ist stellvertretender Direktor Erwachsenenpsychiatrie, Chefarzt der Schwerpunkte für Psychotherapie und Psychosomatik sowie für psychosoziale Therapien, in der Erwachsenensychiatrie Baselland. Die ObZ hat ihm drei Fragen zum Buch «Es braucht lange, bis die Menschen ehrlich sind» gestellt.

ObZ: Wie kommt das Buch bei Ihnen als Fachmann an?

Daniel Sollberger: Das Buch gibt einen intimen und eindrücklichen Einblick in das subjektive Erleben und die Innenwelt einer Frau, Ehefrau und Mutter von zwei Kindern sowie gelernte Krankenschwester, die Mitte 30 an einer Psychose erkrankt, wenige Jahre später an Krebs, an welchem sie dann gut zehn Jahre später stirbt. Die Texte, tagebuchartig mit Reflexionen zur Kindheit der Autorin als hochsensibles Mädchen, zu ihren eigenen Kindern, ihrem zunehmend die Kinder alleinerziehenden Ehemann, zu Familie, aber dann eben auch die Schilderungen zu ihrer eigenen, einsamen Welt mit «dämonischen Einflüsterungen», Stimmen, die ihre Gesprächspartner werden, sie einschliessen in eine dunkle Blase und den Austausch mit der Aussenwelt verarmen lassen, sind gepaart mit feinsinnigen und berührenden Gedichten der Autorin. Die Texte der Autorin werden durch Kontext schaffende Kommentare des Herausgebers kontrastiert und ergänzt, so dass sich eine Vielfalt an Perspektiven auf das Leben und Erleben der Autorin ergeben.

Für mich als Leser, aber eben vor allem auch als Psychiater ist dieser Text – wie auch andere subjektive Zeugnisse von Menschen mit psychischen Ausnahmeerfahrungen (jüngstes Beispiel das neu aufgelegt und kommentierte Buch von Karl Heinrich Fehrlin «Die Schizophrenie») – von grosser Bedeutung, weil sie die für die Psychiatrie wie für keine andere Disziplin der Medizin so zentrale und leider immer wieder vernachlässigte Dimension der Subjektivität fokussiert. Es ist eine Herausforderung der Psychiatrie, sich in der Diagnostik um Objektivität zu bemühen, zugleich aber ebenso sehr die Erst-Person-Perspektive von Menschen auf sich, ihre Erlebens-, Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen mit in diagnostische Überlegungen und insbesondere dann auch in das therapeutische Verstehen miteinzubeziehen. Man könnte also sagen, dass sie sich in ihrem Verstehen ebenso sehr auch um die Subjektivität von Menschen, die psychisch erkranken, bemühen muss. Insofern leistet das vorliegende Buch auch für diese Herausforderung einen wertvollen Beitrag.

Christine Kuhn schreibt von «Dämonen», Sie würden wohl eher Begriffe wie «Psychose» oder «Halluzinationen» verwenden. Kann poetische Sprache nützlich sein, um diese Phänomene greifbarer zu machen?

Unbedingt. Bloss würde ich in Bezug auf das Buch unterscheiden zwischen Poesie und dem Versuch einer authentischen Sprache der Subjektivität. Die Gedichte der Autorin haben poetischen Charakter und treten auch mit einem lyrischen Anspruch auf, während die Schilderungen der Erlebnisweisen, die wir möglicherweise psychopathologisch als halluzinatorisch, wahnhaft oder schlicht psychotisch betiteln würden, einen Einblick geben ins Denken und Wahrnehmen einer Person. Und zwar in ein Denken, welches wir vielleicht manchmal als schwer verstehbar bezeichnen würden, das aber in diesem Schreiben doch einen Zugang zu schaffen vermag zu Zuständen, in welchen die betroffene Person sich befindet und für welche eine Kommunikation mit anderen so schwierig ist. Dies könnte man im Sinn der Autorin auch mit dem Begriff der Ehrlichkeit verbinden, wie er im Titel des Buches erscheint. Poesie und subjektives Sprechen sind kreative Versuche der Selbstverständigung und der Mitteilung an andere in Momenten, wo ein Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit verloren gegangen ist.

Denken Sie, dass dieses Buch eine Hilfe für psychisch erkrankte Menschen und ihre Angehörigen sein kann?

Ja, sicher. Es mag nicht bloss ein Verstehen ermöglichen, sondern auch den Mut geben, sich in dieser kreativen Form des Schreibens oder eben auch des «Eine-Sprache-Findens» – sei es nun in poetischer Form oder in tagebuchähnlichem Schreiben oder auch im Sprechen und Miteinander-Reden – mitzuteilen. Es kann Mut machen, bei aller Einsamkeit, die oft mit psychischen oder auch schweren somatischen Erkrankungen einhergeht, in Beziehung zu sich und zu anderen zu treten und etwas von der eigenen Innenwelt zu teilen, um aus bedrohlicher Isolation, Sprachlosigkeit und Verzweiflung herauszufinden. Dies betrifft sowohl die Erkrankten selbst wie auch deren Angehörigen. Interview: M. Schaffner

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