Archive machen Vergangenheit greifbar

Jubiläum Mit der «Petition der 30 Sissacherinnen» stellt das Staatsarchiv BL ein besonderes Dokument ins Zentrum

Die Unterschriften der 30 Sissacherinnen, die 1862 mehr Bildung für Frauen und eine gerechtere Erbverteilung forderten.

Die Unterschriften der 30 Sissacherinnen, die 1862 mehr Bildung für Frauen und eine gerechtere Erbverteilung forderten.

Staatsarchivarin Jeannette Rauschert: «Archive spielen eine wichtige Rolle.» Fotos: M. Schaffner

Staatsarchivarin Jeannette Rauschert: «Archive spielen eine wichtige Rolle.» Fotos: M. Schaffner

Der Verein Schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA) wird dieses Jahr 100 Jahre alt. Als Jubiläumsprojekt wandert eine Archivschachtel durch die Archivlandschaft der Schweiz und Liechtenstein und wird unterwegs von den Archiven mit «Archivschätzen» gefüllt: Die beteiligten Archivarinnen und Archivare legen jeweils eines ihrer «Lieblings­stücke» in die Schachtel. Am 15. September, bei der 100.Jahresversammlung des Vereins, wird der Inhalt in Bern präsentiert und die Schachtel anschliessend ans Bundesarchiv übergeben.

Diese Woche weilt die Archivschachtel des Projekts «Archive on tour» im Staats­archiv Baselland in Liestal. Staats­archivarin Jeannette Rauschert hat ­zusammen mit ihrem Team bereits entschieden, welchen «Archivschatz» sie in die Schachtel legt – dazu gleich mehr.

Doch zunächst die Frage: Warum sind Archive überhaupt wichtig? Wen kümmern die Papierberge, die sich in den Magazinen stapeln? Jeannette Rauschert spricht fürs Staatsarchiv Baselland: «Wir bewahren das kulturelle ­Gedächtnis und haben eine Funktion in der Demokratie, weil wir das politische und staatliche Handeln dokumentieren und nachvollziehbar machen.»

Frauen mit einem starken Willen

Zurück zum Jubiläumsprojekt «Archive on tour». Für Jeannette Rauschert war es gar nicht so einfach, ein «Lieblings­stück» auszusuchen. Die Geschichte des Kantons Baselland, vor allem während des turbulenten 19. Jahrhunderts mit vielen politischen Auseinander­setzungen und Etablierung des jungen Kantons böte verschiedene Ansatz­punkte: «Wir haben viele spannende Unterlagen bei uns, über die Kantons­gründung, aber auch über die Vor­geschichte», zählt Jeannette Rauschert auf. Sie seien alle von Wert, weil sie aufzeigen würden, wie politisches ­Handeln und gewisse Abläufe in der Verwaltung des Kantons organisiert seien. Für ­«Archive on tour» habe sie aber nach einem Dokument gesucht, das eine ­besonders politisch-emotionale Bedeutung habe.

Die Wahl fiel schliesslich auf eine Petition von 30 Sissacherinnen, die 1862 im Rahmen der Verfassungsreform ihre Forderungen an den Verfassungsrat stellten. Sie wünschten, dass zwei Dinge in neue Verfassung aufgenommen werden: Einerseits das Recht auf ­Bildung für weibliches Geschlecht, andererseits Änderung des Erbrechts, nämlich dass Vermögen hälftig zwischen Geschlechtern aufgeteilt werden und nicht zu zwei Dritteln an männliche und zu einem Drittel an weibliche Erben.

«Es war eine Zeit, in der Frauen keine politischen Rechte hatten», betont Jeannette Rauschert. Die Bittstellerinnen hätten aber nicht etwa politische ­Beteiligung gefordert, sondern – via Bildung und Erbrecht – mehr Anerkennung und Chancen für eine Teilhabe an ­Gesellschaft und Wirtschaft. Speziell ist für Jeannette Rauschert, dass sie nicht nur Forderungen stellen, sondern auch die Gründe dafür aufführen: «Die Petition ist sehr durchdacht und taktisch aufgebaut.» So argumentieren die ­Sissacherinnen, dass im Verfassungs­entwurf selbst stehe, dass alle Bürger gleichgestellt seien und alle Vorrechte abgeschafft würden. So würden die ­Petentinnen davon ausgehen, dass das auch für Frauen gelte und auch sie zum «Volk» gezählt würden. Im Hinblick auf ihre Rolle als Mutter und Verantwortliche für den Haushalt stehe es ihnen zu, dies einzufordern.

Die Forderungen der 30 Sissacherinnen hatten bei der Verfassungsreform von 1862 keinen Erfolg. Die Petition habe dennoch eine besondere Bedeutung für das Staatsarchiv, unterstreicht Jeannette Rauschert. Im Dokument werde deutlich, welche Wünsche die Frauen gehabt hätten und wie sie diese in selbstbewusster Art und Weise formulierten. «Uns gefällt, wie der starke ­Gestaltungswille der Frauen greifbar wird», sagt die Staatsarchivarin. Das sei für eine Zeit, in der Frauen politisch ­bevormundet worden seien, ausser­gewöhnlich.

Exemplarisch ist die Petition der ­Sissacherinnen auch, weil diese auf die wechselvolle Entwicklung des noch ­jungen Kantons im 19. Jahrhundert hinweist. «Anhand von Dokumenten, die wir im Archiv aufbewahrt haben, kann der politische Diskurs und die demokratische Entwicklung nachvollzogen und erforscht werden», erklärt ­Jeannette Rauschert.

Was ist archivwürdig?

Nun gibt es auch Dokumente, die nicht ins Archiv finden: Alles, was dem Staats­archiv angeboten wird, wird mit archivischer Methodik bewertet, und nur das, was vom Staatsarchiv als «archivwürdig» eingestuft wird, wird übernommen. Die Dokumente stammen hauptsächlich aus der kantonalen Verwaltung – aber nicht nur: Das Staatsarchiv kann auch archivwürdige Akten aus dem privat­rechtlichen Bereich übernehmen wie von einzelnen Vereinen, Firmen, Parteien, Familien oder von Einzelpersonen. Die Archive privater Herkunft sind eine Ergänzung zur Dokumentation der ­Verwaltungstätigkeit und bilden zusammen mit dieser die kantonale Überlieferung. Es entstehe so ein zumindest fragmentarisches Bild über die Gesellschaft, verdeutlicht Jeannette Rauschert.

Die Kundschaft des Staatsarchivs gliedert sich auch in ganz unterschiedliche Gruppen: Zum einen Teil ist es die ­kantonale Verwaltung selbst, die für laufende Geschäfte Rückgriff auf bereits archivierte Dokumente benötigt. Dann sind es Forschende, Schülerinnen und Schüler sowie Studierende, aber auch Personen, die ihren Stamm­baum recherchieren, an einer Dorf­chronik mitwirken, etwas über die ­eigene Lebens­geschichte herausfinden wollen oder schlicht im Rahmen eines Bauprojekts Zugriff auf Bauunterlagen brauchen. Viele Anfragen zu historischen Gegebenheiten und Themen erreichen das Staats­archiv oder auch Bestellungen für eine Kopie des eigenen Schul­zeugnisses, ­welches über die Jahre verloren ging.

Der digitale Lesesaal

Alles in allem kommt viel Papier zusammen: Fast 20000 Laufmeter Akten ­reihen sich im Magazin des Staatsarchivs aneinander, und auch heute kommt noch vieles in Papierform daher. Gleichzeitig stellt die digitale Transformation neue Herausforderungen dar, punkto Infrastruktur und punkto Know-how. «Wir können nicht einfach ganze Fest­platten archivieren», erläutert Jeannette Rauschert, «denn die mobilen Daten­träger sind nicht ewig haltbar.» Auch digitale Daten müssten bearbeitet, ­gepflegt, ins digitale Langzeitarchiv ­importiert und mit Metadaten im Archiv­informationssystem erfasst werden.

Auch punkto Zugänglichkeit werden heute andere Ansprüche gestellt. So wird von den Benutzenden vermehrt gewünscht, dass die Daten online recherchierbar und Archivalien direkt digital im Internet einsehbar sind. Das Staatsarchiv hat darauf reagiert und letztes Jahr auf www.memory.bl.ch einen ­«digitalen Lesesaal» eingerichtet. Zahlreiche Dokumentarten können auf ­dieser Plattform gefunden werden, ­recherchiert und direkt genutzt werden. Digitalisate sind so hoch aufgelöst, dass ganz nah gezoomt werden kann, was den Detailreichtum von Plänen ent­decken lässt und beispielsweise das Entziffern alter Handschrift erleichtert.

Natürlich bildet die digitale Plattform nicht das gesamte Archiv ab, aber wichtige «Kernserien» und Sammlungen wurden retrodigitalisiert und sind abrufbar, also oft benutzte Dokumentenserien wie Protokolle aus dem Landrat und Regierungsrat – sofern diese bereits öffentlich sind –, Unterlagen für die ­Familienforschung wie die Kirchen­bücher und Zivilstandsregister, Karten und Pläne, historische Fotografien. Zu finden sind auch thematische Inputs zu verschiedenen Themen unter der Rubrik «Vitrine», so beispielsweise über die Industrie im Baselbiet. Gerade für die Familienforschung eigne sich der digitale Lesesaal als erster Einstieg, empfiehlt Jeannette Rauschert.

Auch die Petition der 30 Sissacherinnen ist auf www.memory.bl.ch auffindbar. Das Dokument aus dem Staats­archiv wird bald in der Archivschachtel erst nach Solothurn und später ins ­Bundesarchiv reisen – natürlich nur als Kopie. Das wichtige Dokument wird den Baselbieterinnen und Baselbietern so zugänglich bleiben wie nie zuvor.

Verein Schweizerischer Archivarinnen und Archivare: vsa-aas.ch

Digitaler Lesesaal des Staatsarchivs Baselland: www.memory.bl.ch

Blog auf memory.bl.ch mit Abbildung der Petition: 100 Jahre VSA: Ein Lieblingsstück geht auf Reisen | Staatsarchiv Basel-Landschaft

Weitere Artikel zu «Oberbaselbiet», die sie interessieren könnten

Oberbaselbiet23.04.2025

100 Gemeinden und 100 Artikel

100-Jahre-Jubiläum Der «Merci Bus» stoppte in Bubendorf, Gelterkinden und Sissach 
Oberbaselbiet16.04.2025

Baselbieter Fünflibervereine tagten in Böckten

DV Ausnahmslos Oberbaselbieter prägen den Kantonalverband
Oberbaselbiet16.04.2025

Frauenpower und gelebte Traditionen

BLKB-Stiftung Kantonalbankpreis an Frauenfussballkommission, Publikumspreis an Trachtenvereinigung