In der Welt der Zwischengängerin
Interview Eine Geschichte kann «wahr» sein, auch wenn sie erfunden ist
Thomas Brunnschweiler – den meisten Leser/-innen als Kolumnist bekannt – hat im Herbst seinen Roman «Die Zwischengängerin – das abenteuerliche Leben der Susanna Carolina Faesch» veröffentlicht. Dieser handelt von einer Baslerin, die in den USA für die Native Americans eintrat und als Sekretärin von Sitting Bull wirkte, jedoch von der europäischen Geschichtsschreibung bisher ignoriert wurde. Die ObZ hat sich mit dem Autor getroffen, um mehr über die Hintergründe dieses historisch-literarischen Projekts zu erfahren.
ObZ: Herr Brunnschweiler, was war das für eine Erfahrung, einmal anstelle von kurzen Kolumnen einen über 300-seitigen Roman zu schreiben?
Thomas Brunnschweiler: Es war eine völlig neue Erfahrung. Ich habe zwei Erzählbände mit Kurzgeschichten geschrieben – ich habe früh gemerkt, ich bin ein guter Pointenschreiber, die Einfälle kommen mir schnell –, aber ich hatte immer Angst vor einem Roman, weil ich dachte, es überfordert mich. Über einen Zufall bin ich dann über Carolina Faesch gestolpert, über einen Neffen zweiten Grades. Es hat mich richtig gepackt und ich begann nachzuforschen. Es entwickelte sich in mir eine gewisse Obsession, in ihre Welt, ins 19.Jahrhundert, und in ihre Geschichte hinabzutauchen und aus den Quellen das Letzte herauszuquetschen.
Es war vor allem das Scheidungsprotokoll, in dem viel drinstand, zum Beispiel ihr Aufenthalt in Biederthal im Elsass und anderes, was der US-Historie nicht bekannt war. Das merkt man auch am Hollywood-Film, der alles sehr verklärt darstellt.
Der Roman ist sehr dicht und voller historischer Details. Wie viel Arbeit steckt in der Recherche?
Mit den ersten Ergebnissen habe ich im Herbst 2017 einen Vortrag in der Schlüsselzunft in Basel gehalten. Aber da hatte ich noch nicht angefangen, in die Tiefe zu recherchieren. Ich verbrachte dann ein paar Monate im Staatsarchiv, wo ich zum Beispiel nachlas, was der Wiesenbannwart für ein Pflichtenheft hatte. Und ich wurde fündig: Der Name Lucas Faesch, Carolinas Vater, tauchte immer wieder auf. Insgesamt waren es vier Jahre Recherche und zwei Jahre Schreiben. Wobei die Recherche erst mit dem Schreiben richtig intensiv wurde, weil ich dann zu Themen recherchieren konnte, die im Roman gerade aktuell waren. Zum Beispiel brachten mich Carolinas Albträume, ausgehend vom Gemälde «Nachtmahr» von Johann Heinrich Füssli, auf damalige Therapien, auf Homöopathie, aber auch auf eine proto-freudianische Traumdeutung. Das sind alles kleine Sachen, die damals aufkamen.
Es war wahnsinnig spannend für mich. Die ganze Geschichte der Eisenbahn beispielsweise. Ich habe viel aus der Unibibliothek mit nach Hause genommen. Ich habe nachgelesen, wie sich die US-Amerikaner zu den Sioux geäussert haben. Waren sie immer die Bösen? Ich wollte einfach zeigen: Die Klischees, die bei uns festsitzen, die stimmen alle nicht.
Wie viel ist historische Realität, wie viel Fiktion?
Es musste alles plausibel sein. Die historischen Personen, die im Roman vorkommen, hätten an dem Ort sein können, wo Carolina Faesch auch war. Ich habe zum Beispiel nicht fabuliert, dass Karl May bei den Dakota war, was er tatsächlich nicht war, sondern ich liess die Begegnung in einem Hotel stattfinden, in dem er tatsächlich übernachtete und das auch sie kannte.
Am Schluss äussert eine Zeitzeugin den Satz, dass Geschichte immer erfunden sei.
Erzählte Geschichten sind nie wahre Geschichten im Sinn von realitätsidentisch, weil Sprache die Geschichte verändert. Wenn man die Geschichte von Jesus so wie eine heutige Reportage schreiben würde, wäre sie wahrscheinlich langweilig und würde die Wahrheit weniger auf den Punkt bringen. Nehmen wir die Passionsgeschichte: Frühere und heutige Theologen sind überzeugt, dass sich unter dem Kreuz alles so abgespielt hat, wie es die Propheten vorausgesagt haben. Heute wissen wir, dass es umgekehrt gelaufen ist. Die Passionsgeschichte ist eine fiktive Erzählung, die aus alttestamentarischen Schriften zusammen-gestellt worden ist.
Beim Lesen des Romans fallen auch einige Anachronismen auf.
Einiges scheint auch aus der Zeit gefallen. Der Mann von Susanna Carolina erwähnt zum Beispiel die «Computer». Das war damals ein Beruf: Das waren Leute, die komplexe Rechnungen anstellen. Er meint, vielleicht gebe es in hundert Jahren eine Maschine, die das tun könnte. Es ist vielleicht ein wenig frech, aber für mich ist da viel Ironie drin. Es hätte ja sein können, dass das jemand damals gesagt hat. Jules Verne schrieb ja auch zu dieser Zeit. Oder frei nach dem Wittgenstein-Zitat: «Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.»
Bestand beim Schreiben nicht die Gefahr, dass Sie sich in all diesen Details, die Sie mit hineingepackt haben, verzetteln?
Ich habe wahnsinnig viele Bücher gelesen und sehr viele Leute haben mitgeholfen, mich auf den neusten Stand zu bringen. Am Schluss ist es eine Auswahl. Ich hatte ein Problem: Ich sah, der Roman wird nicht auf 200 Seiten kommen, er explodiert. Dann habe ich Passagen gestrichen, die zu sehr abschweifen.
Was war überhaupt die Motivation, sich mit diesem historischen Stoff zu befassen?
Es war ein historisches Interesse, ein privates Interesse und drittens ein Anknüpfungspunkt an Kindheitserinnerungen. Wir haben früher «Indianerlis» gespielt, damals durfte man das ohne schlechtes Gewissen. Die Karl-May-Bücher habe ich verschlungen. Als Zehn-, Zwölfjähriger bin ich mehr in die Geschichte eingetaucht. Mein Vater hat dann auch erzählt, dass er grosser Karl-May-Fan war und um 1910 auf der Elbe an Radebeul vorbeifuhr und sich überlegte, Karl May zu besuchen. Er tat es aber nicht und das habe ich ihm nie verziehen!
Aus dem Roman lassen sich auch Bezüge zu heutigen Themen herauslesen, beispielsweise auf Trump oder die Proteste gegen die Dakota Access Pipeline.
Weltpolitische Ereignisse haben immer Einfluss auf meine Gedanken, aber eher unbewusst. Das Buch ist sehr links, es kommt aus der Sicht eines liberalen Demokraten, der aufgeklärt ist. Bei Kolumnen bin ich auch am Zeitpuls und versuche auf den Punkt zu bringen, wo die Menschen stehen. Insofern war das Buch Gelegenheit, über Unterdrückung, Kolonialismus und Ethnozid zu schreiben.
Die Unterdrückung von Indigenen ist ja etwas, das sich bis heute durchzieht…
…Landnahme, keine Rücksicht auf heilige Stätten oder das Grundwasser… Und es ist verrückt, dass bis heute kein Präsident indianische Wurzeln hat.
Ein Bekannter hat mir gesagt, dass er deprimiert gewesen sei, als er das Buch fertig gelesen habe. «Wo ist die Hoffnung?», hat er mich gefragt. Ich habe ihm geantwortet: Die Hoffnung ist bei der Leserin/beim Leser. Sie/er muss etwas aus dem Buch lernen.
Interview: Marc Schaffner