«Keimkräfte, die aufgehen wollen»

Der Dirigent und Organist Brunetto Haueter (70) aus Niederdorf spricht über sein Verhältnis zur Musik und seinen Respekt vor genialen Komponisten  

Der Dirigent, Lehrer und Organist Brunetto Haueter.  Foto: Lorenz Degen
Der Dirigent, Lehrer und Organist Brunetto Haueter. Foto: Lorenz Degen

ObZ: Herr Haueter, wie kamen Sie mit der Musik in Berührung?

Ich bin in Chur geboren und aufgewachsen. Mein Vater pflegte eine grosse Liebe zur Musik, obwohl er als Psychiatriepfleger diese nur punktuell ausleben konnte. Er nahm mich mit zu den Proben von Oratorien, die mich schon als Kind ungeheuer beeindruckten. In der 2. Primarklasse trat ich dann in die Singschule Chur ein, die von Lucius Juon (1913–2015) geleitet wurde. Er führte mich professionell an die Musik heran. Doch beinahe wäre ich wieder ausgetreten.

Wie kam das?

In der sechsten Klasse hatte ich eine «Blödel-Phase» und wollte nicht mehr in die Singschule. Meinem Vater gelang ein pädagogischer Kunstgriff: Er schlug vor, dass ich noch ein Jahr gehen solle und ich dann die Schule verlassen dürfe, wenn mich das Singen immer noch anödete. In diesem Jahr kam Jürg Kerle in meine Klasse, der spätere Singschulleiter. Wir wurden Freunde fürs Leben und halfen uns gegenseitig «zu überleben», denn wir waren völlige Aussenseiter.

Inwiefern?

Die anderen Jugendlichen hörten Beatles, wir hingegen gingen in die h-Moll-Messe von Bach (lacht). Ich denke oft, wenn mich mein Vater einfach gleichgültig die Singschule hätte abbrechen lassen oder wenn er darauf bestanden hätte, dass ich unter allen Umständen bleiben musste, was zu meiner totalen Rebellion geführt hätte, wäre mein Leben komplett anders verlaufen. Ich hätte den Weg zur Musik schwerlich gefunden.

Wie kamen Sie denn bis zum Dirigentenpult?

Damals daran zu denken, Musik als Beruf auszuüben, getraute ich mich gar nicht. Eine Musikerlaufbahn schien mir unendlich weit weg. Ich wurde Lehrer und betätigte mich auf pädagogischem Feld, zunächst in Graubünden. Durch ein Studium der Anthroposophie Rudolf Steiners kam ich in die Region Basel, wo ich mich schliesslich niederliess. Da ich unmässig Klavier übte, spielte ich mir meine Hände kaputt und konnte keine Pianistenausbildung anfangen. Eher zufällig wandte ich mich dem Dirigieren von Chören zu, was mich aber sehr begeisterte. Mit 36 Jahren konnte ich in Luzern doch noch ein Studium für Schul- und Kirchenmusik aufnehmen und mit den Diplomen als Berufsdirigent und Organist abschliessen. Das wäre wohl heute unmöglich. So fand ich doch noch den Einstieg in die Berufsmusik, wenn auch spät.

Zu spät?

Für manches ja. Dirigent an einem Opernhaus zu werden kann man in diesem Alter vergessen. Da hätte man jung als Assistenz irgendwo anfangen und dann an verschiedene Häuser gehen müssen. Auch für die grossen Orchester hätte ich viel früher einsteigen und vor allem ein Orchesterinstrument spielen können. Doch ich war Organist und fand meine Sparte im geistlichen Chorgesang. Nach und nach übernahm ich die Leitung mehrerer Chöre. Zum Beispiel dirigierte ich den Engadiner Kammerchor und gründete die Mendelssohn Kantorei Dornach und später das Philharmonische Orchester Riehen. Daneben blieb ich jedoch immer auch als Lehrer tätig, in den letzten zwanzig Jahren an der Sekundarschule Waldenbur-gertal in Oberdorf. Heute leite ich den Singkreis Affoltern am Albis und die Voci Appassionate und betätige mich als Organist.

Was bedeutet Ihnen die Orgelmusik?

Sehr viel, die Orgel ist mein Hauptinstrument. Mein Vater war bereits von Orgelmusik begeistert und konnte sich später eine eigene Hausorgel erbauen lassen, die nun bei mir zu Hause steht. Er spielte nicht sonderlich gut Orgel, aber er hatte grosse Hoffnungen, dass ich es auf der Orgel zu etwas bringen sollte. Inzwischen kenne ich sehr viele Orgeln im Oberbaselbiet und im Kanton Solothurn, etwa im Niederamt, wo ich immer wieder in Gottesdiensten spiele.

Sind Sie auch Komponist?

Ich habe einige kleine musikalische Werke, Theaterstücke und Singspiele geschrieben, meist für die Schule oder meine Chöre. Doch ich bin eindeutig mehr der Interpret als der Komponist.

Zu welchen Komponisten haben Sie eine besondere Beziehung?

Von Anfang an waren die Klassiker Mozart, Haydn und Beethoven für mich sehr wichtig. Mit Jürg Kerle habe ich als Jugendlicher einen Beethoven-Film gesehen, den ich heute wohl furchtbar kitschig finden würde, damals hat er mich aber sehr beeindruckt. Beethoven dirigierte mit den Fäusten oder sass tropfnass im Wald und komponierte die «Pastorale», ohne den Regen um sich herum zu bemerken. Das beeindruckte mich. Die grossen Symphoniker Mahler und Bruckner «entdeckte» ich erst in meiner zweiten Lebenshälfte, vorher war mir diese Klangwelt fremd. Zu Wagner habe ich ein ganz eigenes Verhältnis, er ist für mich eine ganz wichtige Quelle. Unglaublich, was dieser Mensch durchlitten hat, bevor er Werke wie einen «Ring des Nibelungen» oder den «Parsifal» schreiben konnte.

Gibt es Dirigenten, die Sie bewundern?

Für mich ist der italienische Dirigent Riccardo Chailly eine Ausnahmeerscheinung. Sein Dirigat ist für mich vorbildlich. Wenn möglich besuche ich seine Konzerte. Generell habe ich jedoch Mühe mit den Inszenierungen der heutigen Opernwelt. Stören tut mich vor allem die Geringschätzung, mit denen heute an ein Werk herangegangen wird. Regisseure haben oft keinen Respekt mehr vor dem Komponisten, wollten stattdessen einfach ihre persönlichen Ideen durchsetzen. Auf «Gags» wie etwa einen Kameramann im Lohengrin auftreten zu lassen, bin ich absolut allergisch. Das ist für mich ungeheuer frech. Zum Glück ist man noch nicht soweit, auch die Musik eines Werkes willkürlich zu verändern, beim Text passiert das ja schon. Das wäre dann für mich ein ungeheurer Bruch.

Wie bereiten Sie sich auf eine Aufführung vor?

Zunächst studiere ich die Partitur. Wie ist der Aufbau, wie der Spannungsverlauf, wo gibt es Bögen, wie liegen die Tempi, worin zeigt sich die Substanz des Werkes? Ein Kollege fragte mich einmal, mit welcher CD-Aufnahme ich arbeiten würde? Ich lachte und verstand die Frage nicht. Er meinte wirklich, dass ich im Konzert eine CD-Einstudierung möglichst genau wiedergebe. Einige Dirigenten machen das vielleicht, aber das kommt für mich nicht in Frage. Natürlich höre ich mir Aufnahmen an, aber ich erarbeite mir meine Interpretation stets selbst. Diese kann sich auch im Laufe der Jahre ändern. Gerade, als ich kürzlich den «Messias» von Händel ein weiteres Mal in meinem Leben aufführte, merkte ich, wie mir manche Stellen ganz anders erscheinen. Wollte ich früher die Passage «Und er wird reinigen» wie mit eisernem Besen gesungen haben, empfinde ich heute die Heilung in diesen Worten. Das musste nun ganz anders klingen.

Worauf achten Sie, wenn Sie neue Stimmen in einen Chor aufnehmen wollen?

Ich sage immer: Ich bin offen für alle. Das Musizieren hat für mich auch eine wesentliche soziale Bedeutung. Manchmal werden Leute, die sich für völlig unbegabt hielten, zu treuen Stützen, die einen Verein über Jahre tragen. Bislang musste ich mich erst von ganz wenigen Mitgliedern trennen, die dem Chor nicht gut taten, aber das waren Einzelfälle. Wichtig ist mir, dass das Singen nicht als Hobby, sondern als Arbeit verstanden wird. Ich biete keine Wohlfühl-Stunde, nach der man nachher noch eins trinken geht. Ich habe einen hohen Anspruch an die Probe, ich will einen gesanglichen und künstlerischen Fortschritt erreichen und es nicht einfach nur schön haben mit den Leuten. Musik ist für mich zu existenziell in ihrer Tiefe, um sich nur zum Plausch mit ihr zu beschäftigen.

Wie wichtig ist Ihnen der Applaus?

Mein bereits erwähnter Lehrer Lucius Juon mochte Applaus gar nicht, er verbot ihn geradezu mit einem Hinweis im Programmheft. Er fand, in einer Kirche gehöre es sich nicht, zu applaudieren, zudem mache das lärmige Geräusch alles kaputt, was vorher erschaffen worden war. Bei mir ist es so: Ich finde Applaus durchaus berechtigt, wenn er eine Dankbarkeit des Publikums ausdrückt, also von Herzen kommt. Einfach klatschen, weil man es halt so macht, lehne ich auch ab. Aber Applaus ist auch ein Dank an die Musiker und die Sängerinnen, das darf man auch nicht vergessen. Ich versuche einfach, dass nicht in den letzten Ton hineingeklatscht wird, sondern noch etwa zwei bis drei Sekunden Stille herrschen. Das gelingt eigentlich immer.

Was halten Sie von der «historischen Aufführungspraxis», dass also Stücke mit alten Instrumenten und anderen Tempi gespielt werden?

Es sind auf diesem Gebiet sicher grosse Leistungen vollbracht worden, aber für mich ist dies, in der oft proklamierten Absolutheit, kein gangbarer Weg. Was kann ich historisch rekonstruieren? Vielleicht Äusserlichkeiten, wie etwa auf Darmsaiten zu spielen.

Aber in die Zeit, in die Menschen von damals kann ich mich ja kaum hineinversetzen. Im Bereich der Tempoannahme eröffnet sich ohnehin ein sehr umstrittenes Feld. Ich denke, bei allem Interesse für die Vergangenheit, kann man doch eigentlich nur vorwärts gehen, nicht zurück. Insofern bleibe ich als Dirigent immer auf der Suche nach dem Neuen, Zeitgemässen, weniger nach dem Vergangenen.

Wie meinen Sie das?

Jede Aufführung ist eine Momentaufnahme von den Menschen, die sie bestreiten und die hören. Ein Werk für alle Zeiten definieren zu wollen, halte ich für unsinnig. Alles ist ein Übergang, ein Fliessen. Wenn die Vertreter der historischen Aufführungspraxis hochmütig über jene lächeln, die vor vierzig Jahren in ihrer Weise Musik gemacht haben, weil sie sie für Banausen halten, dann denke ich, es werden Leute kommen, die in vierzig Jahren über uns lächeln werden. Beides ist natürlich gleich dumm. Wer kann schon einen ewig gültigen Massstab setzen? In der Musik ist das nicht möglich, darf das nicht möglich sein. Das wäre der Tod aller Verwandlung, die die Musik ausmacht. Musik ist der lebendige Ausdruck unseres Daseins. Hier wirken Keimkräfte, die aufgehen wollen.

Gibt es etwas, was Sie sich noch wünschen würden?

(Überlegt). Ich durfte so viele schöne Konzerte geben, mit so wunderbaren Musikerinnen und Musikern, Sängerinnen und Sängern auftreten, vor so begeistertem Publikum spielen und ich darf es immer noch. Dafür bin ich tief dankbar. Verwehrt blieb mir, Opern zu dirigieren. Ich weiss, nun bin ich fast zu alt dafür, aber wenn aus dieser Richtung noch eine Anfrage käme – das würde mich schon locken!

Interview: Lorenz Degen

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