Das Rössli startet neu
Oberdorf Ein Gasthaus zwischen Genuss und Geschichte

Nach über einem Jahr Stillstand steht dem traditionsreichen Gasthaus Rössli in Oberdorf ein Neuanfang bevor. Ab August soll das 1750 erbaute historische Gebäude seine Türen wieder öffnen – nicht als gewöhnliche Beiz, sondern als Ort, an dem Geschichte, Gastlichkeit und Kultur auf neue Weise zusammenfinden.
Schon lange ist das Rössli nicht nur ein Bauwerk, sondern Teil der regionalen Identität. Als exemplarisches Beispiel für das Beizensterben im ländlichen Raum musste es zuletzt – wie viele andere – seine Türen schliessen. Die Gründe: steigende Kosten, fehlende Konzepte, schwierige Rahmenbedingungen, die sich durch die Coronapandemie noch verschärft haben. In seiner langen Geschichte wurde das Rössli von mehreren Pächtern geführt. Trotz seiner Beliebtheit gelang es nicht, einen wirtschaftlich tragfähigen Betrieb dauerhaft aufrechtzuerhalten.
Ein ungewöhnlicher Neuanfang
Doch nun ist eine neue Lösung in Sicht – getragen von einem aussergewöhnlichen Konzept, das Tradition und Innovation verbindet. Heini Dalcher, Architekt mit starkem Bezug zur Region, und Jakob Steinmann sind die Besitzer der Liegenschaft und haben sich gemeinsam mit Fabienne Ballmer, Präsidentin von Gastro Baselland und Stiftungsrätin der Stiftung Schweizerisches Gastronomiemuseum, intensiv Gedanken über eine Wiederbelebung gemacht. Herausgekommen ist ein Modell, das das Rössli zu einem kulturellen und kulinarischen Begegnungsort machen soll – als moderne Dorfbeiz mit historischem Fundament.
Mehr als Nostalgie
Kern der Idee ist eine Zusammenarbeit mit der Stiftung des Gastronomiemuseums, deren Sammlung nach der Schliessung des Museums derzeit in einem Keller in Thun lagert. Sie umfasst über 12000 Kochbücher aus fünf Jahrhunderten sowie rund 1500 historische Küchenutensilien und Beizenobjekte – darunter auch skurrile Exponate wie ein Kochbuch für Innereiengerichte mit Hoden, Hirn und Kutteln.
Im Rössli sollen nun Teile dieser Sammlung wieder sichtbar werden: als zugängliche Bibliothek, als Ausstellung im Alltag, als Inspirationsquelle für Events oder Kochabende. Dabei geht es nicht um ein Museum im klassischen Sinne – die Exponate sollen lebendig bleiben. Gäste dürfen durch die Bücher stöbern, beim Feierabendbier alte Rezepte entdecken oder erleben, wie Gastköchinnen und Gastköche historische Gerichte neu interpretieren. Das Rössli wird so zu einem Ort, an dem Kulinarik und Kultur Hand in Hand gehen. «Es geht nicht darum, Nostalgie zu bedienen», sagt Ballmer. «Sondern um eine neue Art von Dorfbeiz, die neugierig macht und offen ist für vielfältige Formen des Zusammenseins.»
Die grosszügigen Räumlichkeiten des Hauses bieten ideale Voraussetzungen dafür – und sollen flexibel genutzt werden können, sagt Dalcher. Eine klassische Speisekarte wird es womöglich gar nicht geben. Stattdessen ist ein wechselndes, themenbezogenes Angebot denkbar – inspiriert von den historischen Beständen. Auch kleinere kulturelle Anlässe oder soziale Formate wie Mittagstische für die Gemeinde sind in Überlegung. «Das gesellschaftliche Verhalten hat sich verändert – und wir müssen die Beiz entsprechend neu denken», meint Dalcher. Die Menschen blieben nicht mehr bis spät in die Nacht, es brauche angepasste Öffnungszeiten, geringere Fixkosten und ein Angebot, das über das Essen hinausreiche.
Ein klassisches Pachtmodell mit hohen Zinsen ist darum nicht vorgesehen. Stattdessen wird ein Umsatzbeteiligungssystem geprüft, um den Druck auf künftige Betreiberinnen und Betreiber zu verringern. Die Suche nach einer passenden Persönlichkeit für die Gastgeberrolle läuft derzeit. Ein Businessplan im engeren Sinn existiert nicht – dafür aber ein starkes Netzwerk, viel Erfahrung und die Überzeugung, dass aus der Kombination von kultureller Nutzung und Gastronomie eine tragfähige Zukunft entstehen kann.
Ein Haus mit Geschichte – und Zukunft
Dalcher bringt diese Erfahrung unter anderem aus dem Kurhaus Bergün oder dem Projekt «Ochsen» in Oltingen mit, wo er mit dem Verein «Kulturgut Dorfbeiz» neue Wege für alte Häuser fand. «Wir haben gesehen, dass flexible Konzepte funktionieren – wenn Idee, Kommunikation und Herzblut stimmen», sagt er. Genau das soll auch im Rössli gelingen.
Wiedereröffnung im August
Noch sind nicht alle Fragen geklärt: Wie genau die Stiftung eingebunden wird, ist in Diskussion: «Definitiv ist noch nichts entschieden», betont Ballmer. Für klimatisierte Lagerräume oder Bibliotheksausstattung wird Unterstützung bei Kanton und Sponsoren gesucht. Aber die Richtung ist klar: Das Rössli wird nicht als Museum wiedergeboren, sondern als sozialer, kultureller und kulinarischer Treffpunkt. Ein Ort zum Verweilen, zum Staunen, zum Schmecken – und zum Wiederentdecken von Geschichte. Wenn alles nach Plan läuft, ziehen im August die ersten Kisten mit Kochbüchern in die neu belebte Dorfbeiz ein. Mit ihnen beginnt vielleicht ein neues Kapitel nicht nur für das Rössli – sondern für eine ganze Region, die ihre Gasthäuser nicht aufgeben will.